Meine Begegnung mit Aline Knodt in Kröv

Von Traben-Trarbach ging es einer wunderschönen Moselschleife folgend nach Kröv. Ein Bekannter schlug mir für meine Reise Aline Knodt als Gesprächspartnerin vor. Sie sei der personifizierte Moselumbruch, meinte er. Zig Follower auf Instagram und TikTok, wo sie in erster Linie kurze Videos über Wein im Allgemeinen und über die Weine des elterlichen Weinguts im Speziellen hochlädt.

Für alle, die nicht wissen was TikTok ist, erkläre ich es in drei Sätzen: TikTok ist eine chinesische App bei der man als Konsument ununterbrochen vierzehnsekündige Videos angezeigt bekommt. Wenn man weiterscrollt, landet einem künftig weniger Gleichartiges vor den Augen. Von allem was man lange anschaut und sogar mit Herzchen belohnt ist künftig mehr zu sehen. Das alles macht man im schlimmsten Fall stundenlang, während das echte Leben völlig an einem vorbeizieht. 

Zugegeben, das ist der etwas dystopische Blick auf die App. Fans würden sagen, dass es einfach Spaß macht und einem die Zeit vertreibt. Unternehmensberater sagen, dass es dank dieser App noch nie so leicht war, mit durchdachtem unterhaltsamen Inhalt innerhalb kürzester Zeit die eigene Zielgruppe zu finden und an sich zu binden. Wenn Sie also einmal in einem Zug sitzen und eine junge Person im Abteil scrollt an ihren Smartphone herum und es strömen einzelne Laute aus dem Gerät, dann nutzt diese Person vermutlich TikTok.

So stand ich also vor dem Weingut Knodt-Trossen und Aline kam aus dem Haus. Sie ist eine junge, sympathische Frau mit einem vereinnahmenden Lächeln, die mich herzlich begrüßte und mich sehr schnell mit samt zwei Flaschen Riesling ins Auto packte und mit mir davon fuhr. Das ist zwischen Moselanern die gängige Art, ein Treffen zu gestalten. Eine Selbstverständlichkeit, über die man keine Worte verliert. Trifft man sich, dann fährt man an Orte, an denen man die Aussicht genießen kann. Gerne auch mit den Erzeugnissen der Region im Gepäck. „Komm, wir fahren auf den Berg!“, hieß das in meiner Jugend. 

Aline lenkte den Betriebsgeländewagen schwungvoll die Serpentinen die Kröver Weinberge hoch. Ich hatte etwas Probleme, die beiden Weinflaschen und die beiden Gläser auf dem Beifahrersitz festzuhalten. Hier tut sich BMW noch schwer, die Ablagemöglichkeiten auf ihre Moselkunden anzupassen. Als wir ausstiegen, lag das Tal unter uns wie ein gedeckter Tisch. Hinter uns prankte in großen Lettern der Name der Großlage: „Kröver Nacktarsch“. Um uns herum tausende Weinbergspfähle, die in den Weinbergsterrassen Richtung Sonne gerichtet waren wie die Zuschauer in der Südkurve eines Stadions Richtung Spielfeld.

Das Moseltal geht hier schon etwas in die Breite. Es ist nicht so in Schluchten zerklüftet wie an manchen Stellen an der Untermosel. Kröv liegt am äusseren Rand einer Doppelschleife des Flusses. Bedeutet, man könnte, genügend Sprungkraft vorausgesetzt, gleich dreimal nacheinander über die Mosel springen, wenn man vom Ortskern Kröv gen Osten läuft. So ergibt es sich, dass man den Ort Enkirch „über den Berg“ in 5 km zu Fuß erreicht, oder mit dem Auto flussabwärts ganze 12 km zurücklegen kann. Solche Stellen findet man häufig an der Mosel, was die Orientierung nicht so leicht macht. Fährt man den Fluss entlang, könnte man glauben, dass man eigentlich nur gerade aus fährt, dabei wechselt man ständig die Himmelsrichtung in die man steuert. Vielleicht war auch das einer der Gründe, warum es mir und meinen Freunden mit Erhalt des Führerscheins schwer viel uns in der Eifel und im Hunsrück zu orientieren. Uns fehlte der Fluss, an dem es entweder flussaufwärts- oder abwärts ging. 

Wir nahmen Platz auf einer Picknick Bank. Die Sonne brannte uns auf der Haut und die ein oder andere fliegende Ameise biss uns in selbige. Es war ein Tag, an dem man sich auf ein kaltes Glas Wein freut, man aber auch aufpassen muss, dass sich ein Glas nicht gleich wie drei Gläser anfühlt. Aussichtsplätze wie diese gibt es wie Sand am Meer an der Mosel. Sie wirken wie Logen mit perfektem Blick auf die Hauptattraktion der Region. Man lässt sich nieder und schaut aus 250 Meter Höhe hinunter auf sein Heimatdorf und lässt die Gedanken ziehen. In diesem Fall: „So so, das ist also Kröv. Das Dorf, indem Aline aufwuchs, indem ihre Eltern ein 4 Hektar großes Weingut betreiben und in dem mindestens einmal im Jahr was los ist: Während des Weinfestes.“

„Hier kannst du auch überleben!“ witzelte Aline beim Blick nach unten. „Wir haben ca. 2300 Einwohner, zwei Supermärkte, drei Bäcker, Friseure“. Das ist für die Mosel wirklich groß und ich nahm diese Information tatsächlich staunend entgegen. Die Nachbarorte Kinheim, Lösnich und Erden haben zusammengerechnet nur halb so viele Einwohner. Und Klotten, das Dorf aus dem ich stamme, gilt mit seinen 1500 Einwohnern schon als Riese unter den Moselgemeinden.

Aline wurde hier 1993 geboren und während in den folgenden  Jahren ihre Freundinnen ins Freibad gingen, stand sie mit ihrer jüngeren Schwester im elterlichen Weinberg auf heißen Schiefersteinen und half beim Entlauben und Binden. Das ist die Arbeit, die im Sommer bei Winzern ansteht. In Moselorten wie Kröv gilt nämlich Folgendes: Wenn deine Eltern kein Weingut haben, dann haben dein Onkel oder deine Cousins ein Weingut. Für Aline und ihre Schwester war aber klar, dass sie auf keinen Fall das Weingut ihrer Eltern übernehmen wollen. Und irgendwie kam es dann doch ganz anders.  

„Für mich war Weinmachen immer mit sehr harter Arbeit verbunden. Wenn du das bei deinen Eltern miterlebt, was das für ein Fulltime Job ist, dann schreckt das erstmal ab. Wir mussten ja auch immer mithelfen. Da gab es, als man älter wurde auch Cooleres als samstags morgens nach dem Feiern beim Etikettieren oder Abfüllen zu helfen. Und vor allem war das eine Männerdomäne. Ich bin nicht damit aufgewachsen, dass auch Frauen einen Betrieb leiten. Eigentlich waren da nur Männer und es hieß immer nur „Schuften, Schuften, Schuften“. Dass man sich auch im Bereich Marketing kreativ ausleben kann, das kam erst viel später.“ 

An dieser Stelle müssen wir vielleicht einmal klären wie kleine Winzerbetriebe an der Mosel über Jahrzehnte ihren Wein vertrieben haben: Das Vertriebsdreieck bestand und besteht zum Teil noch heute  größtenteils aus Straußwirtschaft, Ferienwohnung und Weinkeller. Kunden kamen im Sommer als Urlaubsgäste. Sie wanderten durch die Landschaft, wurden durch den Keller geführt, tranken im winzereigenen  Ausschank, der besagten Straußwirtschaft, schliefen in der Ferienwohnung des Winzers, und fuhren anschließend mit den Worten „bis nächstes Jahr“ und einem Kofferraum voller Wein wieder nach Hause. Und damit der Winzer auch mal sah, wie die Kundschaft so lebte, schickte er im November eine Preisliste mit den neuen Weinen an seine Adresskartei und fuhr in der Vorweihnachtszeit mit einem Mercedes Sprinter voller Moselwein durch ganz Deutschland und lieferte aus.

Aline studierte in Augsburg BWL, mit Schwerpunkt Marketing.  „Gott sei dank haben unsere Eltern uns nie Druck gemacht, dass wir den Betrieb übernehmen müssen. Nur der Opa hat manchmal gesagt, dass wir doch heim kommen sollen. Mein Vater musste damals mit 16 Jahren einsteigen. Zu Beginn ganz ohne Leidenschaft, dafür mit ordentlich Druck. Den gab er nie an uns weiter. Die Liebe zum Weinmachen entwickelte sich bei meinem Vater auch erst nach und nach. Er hat Ende der 80er die meisten Weine auf Trocken umgestellt, was damals  sehr fortschrittlich war. Dann kamen auch die ersten Auszeichnungen. Der Plan meiner Eltern war, dass sie in der Rentenzeit einzelne Weinberge oder irgendwann den ganzen Betrieb verkaufen.“

Alines Eltern investierten fortan in den Betrieb, auch wenn die Aussichten schlecht waren, dass die Töchter das Weingut übernehmen. Einen gesunden Betrieb zu übernehmen ist für junge Weinmacher ein Glücksfall. In den meisten Fällen steht die neue Generation zum Zeitpunkt der Übernahme oder beim Kauf eines Weingutes vor enormen Investitionen, die sie tätigen muss, um den Betrieb für die Zukunft aufzustellen. Eine Weinpresse z.B. kostet zwischen 35.000 und 70.000 Euro. Preiswerte Schlepper gibt es zwischen 60.000 und 110.000 Euro. Der alleine hilft einem beim Spritzen oder Entlauben der Reben reichlich wenig, weshalb Anbaugeräte im Bereich von 40.000 bis 80.000 Euro fällig werden. 

Hier vergeht einem Großteil der Töchter und Söhne an der Mosel schnell der Spaß, besonders wenn man bedenkt, dass das Berufsleben, in das man hochverschuldet startet, ein Leben ist, indem harte Arbeit und Hoffen auf gute Wetterbedingungen  an der Tagesordnung liegen, während Urlaub und verlässliches Einkommen eher Seltenheitswert haben.

Und auch Aline richtete sich erstmal mit anderen Plänen gemütlich im BWL Studium ein. Nach Praktika in München und Berlin zog es sie 2017 nach Südafrika, wo sie sich hals über Kopf in das Land verliebte. So sehr, dass sie 2019 nach Kapstadt zog, um dort zu arbeiten. Das erntete bei ihren Eltern ein leichtes und bei ihren Großeltern ein sehr ausgeprägtes Kopfschütteln. Dabei entwickelte Sie genau dort eine ganz neue Sicht auf Wein und ihre eigene Heimat.

„Mit der Nähe zu Weinanbaugebieten wie Stellenbosch und Franschhoek habe ich die Weinwelt nochmal ganz anders kennengelernt. Riesige Weingüter, tolle Vinotheken mit traumhaften Aussichten und vor allem junge Leute, die sich dort eine schöne Zeit machen. Das kannte ich von der Mosel ja gar nicht. Hier gab es vor Corona nur Senioren. Und die jungen Leute wollen zunächst mal die weite Welt sehen, da sie Regionen wie die Mosel auch im Alter noch besuchen können.“ 

So genoß Aline zumindest fast ein ganzes unbeschwertes Jahr in Südafrika bis der Corona Virus die Welt lahm legte und ihre kleine Schwester Josephine im März 2020 aus dem elterlichen Betrieb anrief, in dem gerade der neue Jahrgang abgefüllt wurde: „Hey Aline, wir füllen gerade ab und fragen uns, wie wir den Wein verkaufen, wenn uns niemand besuchen darf und wir auch keine Gäste aufnehmen dürfen.“

Aus der Not heraus begann Aline von Südafrika aus den Instagram Kanal des Weinguts zu bespielen. Ihre Schwester machte tagesaktuelle Fotos von den Tätigkeiten im Weingut und jeden Mittwoch wurde online ein neuer Wein vorgestellt. Auch Opa wurde hier und da mal ins Bild gerückt. Kündigte sich auf Instagram jemand zu einer Weinabholung an, instruierte Aline von Südafrika aus ihren Vater, dass er doch bitte zum ausgemachten Zeitpunkt im Weingut sein soll. 

Dann zog Aline in Südafrika die Reißleine. Ein halbes Jahr Lockdown, indem sie lediglich zum Einkaufen ihre Wohnung verlassen durfte ,steckte in ihren Knochen und der Appetit nach ihrer Heimat entwickelte sich zu einem ausgeprägten Hunger. Im August 2020 konnte sie endlich per Rückholflug nach Deutschland reisen. Zurück in Kröv hatte sie Blut geleckt. Sie half hochmotiviert bei der Ernte mit, bespielte Instagram mit Fotos und Videos und brachte sogar ihren zurückhaltenden Vater dazu hier und da mal in die Kamera zu sprechen. Das kostete ihn Überwindung. 

Im November kam dann die erwähnte App TikTok ins Spiel. Aline lud Videos aus dem Weingut hoch und das Internet schaute hin – 10.000 Follower nach 2 Monaten. Fragen, die in der Community aufkamen beantwortete Aline dann erneut mit einem Video. So entstand nach und nach eine Clipsammlung, die fundiertes Weinwissen an Neulinge vermittelte. „Was ist ein Rosewein?“ oder „Was ist der Vorteil eines Schraubverschlusses?“.

Für Aline waren solche Fragen banal, doch sie merkte schnell, dass das Wissen mit dem man an der Mosel aufwuchs nicht jedem zugänglich war. Wer die Menschen informiert, dem vertrauen sie und wem sie vertrauen, bei dem kaufen sie. Ein kleines Familienweingut von der Mittelmosel platzierte sich so auf einem weltweit trendigen Markt des Infotainment an eine Spitzenposition – als erstes Weingut im deutschen Sprachraum. 

In den Jahren 2020 und 2021 waren zudem die Einschränkungen in der Gastronomie noch sehr hoch, sodass sich das Phänomen des Alone-at-Home Trinking etablierte. Und so gab es nicht wenige Menschen, die zu Hause saßen, bei TikTok herumscrollten und Wein tranken. Nicht selten, Riesling vom Weingut Knodt-Trossen. 

Doch wie reagiert „das Dorf“ auf so einen Erfolg? Man sagt der Moselregion nach, dass Neid mehr verbreitet ist als Gönnertum. Aline tut sich schwer ihre Mitmoselaner zu beschreiben: „Die Moselaner sind unheimlich herzlich, aber oft auch in ihrem Blickfeld eingeschränkt. Die Offenheit für neues vermisse ich bei vielen. Das führt natürlich dazu, dass man im ersten Moment große Unsicherheit hat sich öffentlich im Internet zu zeigen. Mein Vater musste sich besonders überwinden. Man fragt sich, was wohl die Leute sagen werden über das was man öffentlich macht. Und da kam uns TikTok zu Gute. 

Dort war ganz am Anfang niemand aus der Weinszene und erst recht niemand von der Mosel. Hätten wir das gleiche auf Instagram gemacht, hätten das viel mehr Menschen, die wir kennen gesehen. Auf TikTok konnten wir erstmal ganz befreit machen und Feedback sammeln. Auf Instagram gab es ja schon sehr viele Nutzer und Contentcreator im Weinbereich. Meist elitäre Leute, die direkt mit dem mahnenden Zeigefinger um die Ecke kamen wenn irgendwo etwas Unsachliches oder annähernd Falsches über Wein geäußert wurde.“

Die Verbreitung der Sozialen Netzwerke war damals, wie auch heute folgendermaßen: Die meisten Menschen sind auf Facebook. Die Jüngeren bis Mittelalten tummeln sich auf Instagram und die allerwenigsten und meist sehr jungen Leute nutzen TikTok. 

Aline lacht: „Anfangs haben wir auf Instagram nie gesagt, dass wir auch Videos auf TikTok machen. Da hat es mich sehr überrascht, wenn mich vereinzelt Leute im Dorf angesprochen haben und gesagt haben ,dass sie unsere Videos toll finden. TikTok war wie ein Schutzraum für uns, aber auch für unsere Zuschauer. Ich stellte schnell fest, dass es eine große Angst gibt Fragen zum Thema Wein zustellen. Und ich hatte auch anfänglich Hemmungen diese zu beantworten. Als Weinhersteller denkt man oft, dass jawohl jeder weiß, wie Rosé gemacht wird. Und Leute, die es interessiert trauen sich nicht nachzufragen aus Angst, dass sie verurteilt werden, als Ahnungslose. Das haben wir nach und nach durch unsere Videos aufgebrochen.“

Wein ist ein Thema, dass nicht selten zur sozialen Ab- und Ausgrenzung genutzt wird. Man belächelt Neulinge, versucht sich mit echtem oder vorgegaukeltem Wissen einen Status zu erarbeiten. Man möchte gelten und als echter Weinkenner wahrgenommen werden. Nicht alle, und nicht überall, aber es scheint als schwebt dieser Geist der gegenseitigen Einschätzung und Beurteilung in jedem Dialog mit, den man über Wein führt. 

„Das war meine größte Befürchtung am Anfang. Das ich das Recht abgesprochen bekäme, etwas über Wein zu erklären. Ich hatte schon den Vorwurf im Ohr, warum denn ausgerechnet ich nun berechtigt sei, den Unterschied zwischen Lieblich und Trocken zu erklären.“ 

Kritik aus dem Dorf gab es nie direkt, aber zum Teil zwischen den Zeilen. „Dass du überhaupt Zeit hast neben der Arbeit im Weinberg Videos zu drehen.“ Es scheint verpönt von sich zu erzählen und dass zu beschreiben, was man tut. Sich selbst in den Vordergrund zu stellen, scheint ebenso problematisch. Wir werden an anderer Stelle in dem Buch tiefer auf diesen vielleicht moseltypischen Zustand eingehen. 

Ich möchte von Aline wissen wieviel denn von virtueller Aufmerksamkeit in monetärem Nutzen hängen bleibt. Wieviele Zuschauer ihrer Videos kaufen denn am Ende? Bedeuten tausende Views auch tausende Käufe? „Das ist Wunschdenken“, meint Aline „Ersteinmal ist es eine enorme Arbeit, überhaupt Inhalte zu kreieren, die angeschaut werden. Dann ist es nochmal eine Hürde, dass die Leute mit einem in Kontakt treten. Und ein Bruchteil derer nehmen dann wirklich Geld in die Hand, um die Produkte zu kaufen.“

Die Leute in Alines Heimatort sehen natürlich nur die Aufrufzahlen ihrer Videos, aber nicht wieviel Arbeit und auch nicht wieviele Verkäufe ihrer Produkte dahinterstehen. Die sogenannte Conversation Rate, also der Anteil derer, die ein Produkt zu Gesicht bekommen und am Ende auch zugreifen wird in der Allgemeinbevölkerung umheimlich hoch eingeschätzt. Würde aber jeder von sich ausgehen, also überlegen wann er kauft, nur weil er ein Produkt zu Gesicht bekommt, kämen die Menschen zu einer realistischeren Einschätzung. Es handelt sich je nach Vertriebskanal und erreichte Kunden um einen sehr geringen Prozentsatz. 

Diejenigen, die durch TikTok und Instagram im Weingut Trossen einkaufen, kaufen Lieblich. Und vor allem die Lage „Kröver Nacktarsch“.  Süß, einfach und gerade für Weinneulinge ein Renner. Zum Teil auch auf Grund des Namens als lustiges Mitbringsel auf Partys oder als Geschenk. Eine der traditionellsten Lagen der Mosel erfährt somit 2020 durch ihren Namen ein Revival mit Hilfe einer chinesischen Social Media Plattform. Im Sommer 2021 kamen die ersten Follower in persona an die Tür des Weinguts. Sie buchten Gästezimmer, kauften Wein, erzählten, dass sie schon von Anfang an auf TikTok verfolgen was Aline im Weingut macht.  Freunde von Aline wurden im Krankenhaus fern der Mosel angesprochen, ob sie das Weingut Knodt-Trossen kennen, als sie erzählten, dass sie von der Mosel kommen. 

So ziehen viele Tage ins Land, an denen Aline noch mehr Zeit als sonst an ihrem Smartphone verbringt: „Gerade das Nachrichtenbeantworten  auf Instagram kostet sehr viel Zeit. Da denken meine Freunde oft, dass ich wieder am Handy spiele und chille, dabei arbeite ich. Ein Video herzustellen kostet mich manchmal einen ganzen Tag. Alleine die Nachbereitung und das Schneiden dauert zum Teil zwei Stunden. Es ist gerade bei TikTok Videos eine Wissenschaft für sich, was man in den ersten drei Sekunden platzieren muss, damit die Zielgruppe nicht direkt weiterscrollt.“

Ich fragte Aline, ob das nun die Zukunft für alle Weingüter sei und wie sie über Unternehmer denkt, die soziale Medien komplett ignorieren. „Social Media ist die Zukunft. Aber klar muss man irgendwo sein eigenes Ding finden. Generell zu sagen, dass das nichts für einen ist, ist in meinen Augen zu riskant. Man muss sich neu entwickeln. In fünf Jahren gibt es vielleicht wieder eine neue App. Nach Facebook, Instagram und TikTok gibt es dann wieder was anderes und es ist in meinen Augen wichtig, dass man offen für Neues ist und mitgeht. Wenn man das nicht nötig hat, hat man vielleicht einen anderen Markt den man bedienen kann. Oft höre ich das aber von Leuten, bei denen ich genau weiß, dass sie das nur sagen um Aktivitäten auf Social Media ins Lächerliche zu ziehen. Man tut so, als sei es ganz einfach, irgendwo ein paar Bilder hochzuladen und dadurch Kunden zu gewinnen. Man denkt, es sei eine Spielerei, aber erkennt den eigentlichen Wert dahinter nicht.“

Hinzukommt, dass man sich in sozialen Medien gezielt in den Vordergrund rückt. Man exponiert sich, möchte gesehen werden. Eine der großen Glaubensgrundsätze in der Moselregion lautet „Nimm dich nicht so wichtig“. Ein Grundsatz der zur Demut und Bodenständigkeit anhalten soll, der aber dann zum Problem wird wenn abweichendes, oder herausstechendes Verhalten generell als problematisch wahrgenommen wird. Geschichtlich gesehen ergibt dieses Verhalten Sinn: Wer nicht auffällt, fällt auch nicht unangenehm auf und riskiert damit auch nicht den Ruf im Dorf. Den Ruf im Dorf zu verlieren, konnte über Jahrhunderte hinweg den wirtschaftlichen Erfolg kosten. Über Generationen lernte man, es sich gut zu halten mit möglichst allen im Dorf. „Fall nicht auf! Mach im Zweifel das, was alle machen!“ war die Devise und ist es oftmals noch immer. 

Aline machte, ohne mit mir explizit darüber zu sprechen, sicherlich auch solche Erfahrungen. Dass man hinter vorgehaltener Hand tuschelte und man ihr nachsagte, dass sie sich in den Vordergrund spielen wolle. 

Gerade wenn ein Weingut Vermarktungsmethoden anwendet, die von den bewährten Methoden abweichen erntet man Skepsis und Missgunst. „Ja, das könnten wir ja auch, aber..“, „Das gehört sich nicht..“ usw. Aussagen, die offenbar ein Abwehrmechanismus gegen eigene Veränderungen sind. Was wäre, würde man Innovationen und Veränderungen generell mehr wertschätzen? Was wäre, wenn ein grundliegendes Gefühl von Wohlwollen und Unterstützung herrschen würde? Menschen, wie Aline und ihre Familie, die neue Wege gehen und skeptisch beäugt werden sind dafür verantwortlich, dass sich dieses Grundgefühl verändert. Ihnen kann man nicht genug danken, dass sie Widerstände aufnehmen um die Moselregion nach vorne zu bringen. Sie verändern den Geist im Tal, die Art wie mit- und übereinander gesprochen wird. 

Aline hat zur richtigen Zeit am richtigen Ort gehandelt. Aber ich frage mich, ob es nun jedem Weingut damit geholfen ist, sich auf Social Media zu präsentieren. Meist enden diese Vorhaben darin, dass man alle drei Wochen ein Foto mit drei Hashtags auf Instagram hochlädt. Diese Definition von „wir machen jetzt auch mal was auf Social Media“ gibt es vielerorts und ist von Mehrwert für die User sehr weit entfernt. 

Heute kann sich Aline vorstellen den Rest ihres Lebens an der Mosel zu verbringen. Sie weiß wie es ist, in einer Großstadt zu leben, sie hatte viele Auslandserfahrungen und es reizt sie, das nun in ihr Leben an der Mosel einfließen zu lassen: „Ein Traum wäre es, sich mit dem Weingut zu vergrößern. Vielleicht mit einer offenen Vinothek am Hang mit etwas Aussicht. So wie in Südafrika.“

Nach dem Besuch bei Aline in Kröv erinnerte ich mich an den Spruch in Bezug auf Familienvermögen, den ich oft gehört habe. Er lautet, dass die erste Generation das Vermögen aufbaut, die zweite Generation es verwaltet und die darauffolgende Generation es verprasst, weil sie keinen Bezug mehr zur harten Arbeit hat, die den Wohlstand ursprünglich ermöglicht hat. Auf Winzerfamilien trifft dies nach meinen Beobachtungen nicht zu. Jedes Kind erfährt die harte Arbeit, wenn nicht am eigenen Leib, dann doch direkt vor den Augen. Im Weingut Knodt-Trossen kommt aber ein weiterer entscheidender Faktor hinzu: Die Fähigkeit, sich auf die zeitlichen Gegebenheiten anzupassen. Es scheint als leistete jede Genration genau ihren Teil, um das Weingut in die Zukunft zu führen. Jeder tat das Erforderliche zur genau richtigen Zeit. Ein unsichtbares Band, dass die drei Generationen vereint und zusammenhält.

Während Alines Großvater; schlichte, aber in den Nachkriegsjahren sehr begehrte Süßweine produzierte, entwickelte ihr Vater das Weingut weiter. Er produzierte mehr und mehr trockene, anspruchsvolle Weine, die vielleicht weniger zugänglich für den ungeübten Gaumen waren, aber dafür von Kennern mehr geschätzt wurden. So vergraulte er schon den ein oder anderen Kunden, der diesen Weg nicht mitgehen wollte. Das sind oftmals sehr schmerzhafte Anpassungsprozesse, wenn man bedenkt, dass jeder Winzerbetrieb hart um jeden einzelnen Kunden kämpfen muss.

Mir wird bewusst, dass ohne diesen Schritt des Vaters auch niemals der Erfolg der Weine auf TikTok möglich geworden wäre. Hätte Aline uninteressante Süßweine im Stil der 50er Jahre beworben, mit ebenso biederem Etikett, hätte es sicherlich weniger Aufmerksamkeit und bestimmt auch weniger Zweitbesteller gegeben. Ein Stein wurde auf den anderen gebaut. Jede, der drei Generationen war wachsam zu ihrer Zeit.

Es ist fast sinnbildlich, dass im ersten viralen Tik Tok Video des Weinguts Opa Ernst die Hauptrolle spielte. Als Aline und ihre Schwester im Weinkeller ein Video drehten, platzte der nämlich mitten rein, lukte durch die Kellertür und erzählte den beiden ganz entsetzt, dass er gerade zum Frühschoppen wollte, aber vor verschlossenen Wirtshaustüren stand. Da erklärten ihm Aline und ihre Schwester, dass doch noch der Lockdown sei und Opa schaute etwas bedröppelt durch die Wäsche. Eine Sequenz wie nach Drehbuch. Das Video erreichte über eine halbe Millionen Menschen!

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